13. November 2025•9 Min
Vielleicht bist du ja nicht überempfindlich, sondern hast ein hochfunktionales Gehirn?
Warum manche Erwachsene trotz Belastbarkeit schneller erschöpft sind, als andere. Oder auch: Vielleicht braucht es nicht immer eine AD(H)S Diagnose, sondern mehr Verständnis und Lösungsansätze
Was, wenn du nicht zu sensibel bist, sondern komplex verdrahtet: das Spektrum im Erwachsenenalter verstehen (und das ganz ohne AD(H)S-Diagnose)
Viele meiner Klient:innen erleben irgendwann denselben inneren Konflikt – und sie beschreiben ihn oft so, dass sie sich immer ein bisschen "falsch" gefühlt haben. Und das bereits ein Leben lang. Heute sieht das dann oft so aus, dass sie wegen akutem Leidensdruck zu mir in die Praxis kommen und mich fragen, warum sie trotz Belastbarkeit so schnell erschöpft sind oder auch, warum das Leben so viel intensiver bei ihnen scheint, als bei allen anderen.
Der Konflikt der Hochfunktionierenden
Ich habe damit direkt zu Beginn einen inneren Konflikt aufgezeigt, der sich so oft in quälenden Fragen äußert – Fragen, die in Wahrheit selten etwas mit klassischer Willensschwäche zu tun haben. Was wir uns selbst dann aber schnell als „Schwäche“ auslegen – etwa, wenn wir Dinge aufschieben, nicht ins Tun kommen oder uns zu wenig diszipliniert fühlen – ist häufig etwas ganz anderes: ein Hinweis auf eine tiefere, komplexere Dynamik im Inneren. Denn darin spiegelt sich gern ein Nervensystem, das Reize, Informationen und Emotionen feiner und vielschichtiger verarbeitet als viele andere. Und das kann sich "unnormal" oder "anders" anfühlen und auch sehr deutlich im Alltag zeigen.
Ich bin doch belastbar – warum bin ich trotzdem so schnell erschöpft?
Warum bin ich ständig innerisch angespannt (die sog. Hypervigilanz), obwohl objektiv alles sicher ist?
Warum wirkt das Leben auf mich intensiver als auf andere?
Mir ist wichtig zu betonen: Erschöpfung ist kein Versagen – sie kann ein Signal des Gehirns sein. Ein Hinweis darauf, dass das System nach Entlastung ruft. (Vorausgesetzt natürlich, körperliche Ursachen und Nährstoffmängel sind ärztlich abgeklärt: das ist immer die Basis!) Ein Nervensystem, das auf mehreren Ebenen gleichzeitig arbeitet – jede Stimmung, jeden Zwischenton, jedes Geräusch wahrnimmt – verbraucht schlicht mehr Energie als eines, welches automatisch alles ausblendet, was nicht überlebensnotwendig ist.
Über den sogenannten Filter-Effekt habe ich bereits in anderen Journal-Artikeln und Videos gesprochen: Reize werden bei manchen Menschen weniger oder anders gefiltert, sodass sensorische Überlastung schneller entsteht. Doch was hat es mit der erhöhten Wachsamkeit – der sogenannten Hypervigilanz – auf sich? Hier bleibt das System unbewusst in einem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft. Das Gehirn scannt permanent die Umgebung auf mögliche Signale von Gefahr oder Ablehnung, selbst wenn objektiv keine Bedrohung besteht. Diese Daueranspannung kostet enorme Energie, weil der Sympathikus aktiv bleibt und kaum in die Regeneration wechseln kann. Die Ursachen dafür können unterschiedlich sein: Manchmal hängt die erhöhte Wachsamkeit mit einer sensiblen, neurodivergenten Reizverarbeitung zusammen – manchmal aber auch mit vergangenen Erfahrungen von Kontrollverlust, Ohnmacht oder emotionaler Unsicherheit. In solchen Fällen spricht man eher von einer traumabezogenen Hypervigilanz.
Wichtig:
Diese Beschreibungen ersetzen keine medizinische oder psychotherapeutische Diagnostik. Wenn du den Verdacht hast, dass traumatische Erfahrungen eine Rolle spielen könnten, ist es immer ratsam, das gemeinsam mit einer traumasensibel arbeitenden Fachperson zu besprechen.
- Filter-Effekt: Beschreibt die individuelle Fähigkeit des Gehirns, Reize zu sortieren und Unwichtiges auszublenden. Bei neurodivergenten Menschen (z. B. ADHS, Autismus, Hochsensibilität) kann dieser Filter offener sein – das führt zu schnellerer Reizüberflutung.
- Sensorische Überlastung: Zustand, in dem das Nervensystem durch zu viele gleichzeitige Eindrücke überfordert ist. Typische Anzeichen: Gereiztheit, Erschöpfung, Rückzugsbedürfnis, „Nebel im Kopf“.
- Hypervigilanz: Dauerhafte, meist unbewusste Alarmbereitschaft des Nervensystems. Das Gehirn bleibt auf „Gefahren-Scan“, selbst wenn keine reale Bedrohung besteht.
- Sympathikus: Teil des vegetativen Nervensystems, der für Aktivierung und Leistungsbereitschaft zuständig ist („Fight- or-Flight-Modus“).
- Dysregulation: Zustand, in dem das Nervensystem nicht mehr zwischen Aktivierung und Entspannung pendeln kann. Es bleibt „oben hängen“ (Übererregung) oder „unten hängen“ (Erschöpfung, Rückzug).
- Traumabezogene Hypervigilanz: Entsteht, wenn das Nervensystem nach belastenden oder bedrohlichen Erfahrungen lernt, dauerhaft wachsam zu bleiben, um sich zu schützen.
Der Aha‑Moment im Coaching
In meiner Arbeit als Heilpraktikerin für Psychotherapie und Coachin sehe ich dieses Muster regelmäßig. Eine Klientin Mitte 40, Mutter und Teamleiterin, brach nach Feierabend oft in Tränen aus – nicht aus Traurigkeit, sondern aus purer Erschöpfung.
Ich hab gar keinen Grund, so fertig zu sein. Ich liebe mein Leben – und trotzdem bin ich dauernd am Limit.
Nach mehreren Sitzungen wurde klar, dass die Überforderung im Außen eng mit einer inneren Vielschichtigkeit zusammenhing. Ihr Gehirn verarbeitete Reize, Gedanken und Emotionen simultan – ein Muster, das bei Menschen mit hoher Sensitivität, Kreativität oder auch neurodivergenten Anteilen auftreten KANN, ohne dass es automatisch eine Diagnose bedeutet. Es zu wissen wird dennoch von so vielen als enorm entlastend empfunden.
Ich bin nicht falsch, sondern mein Gehirn ist einfach viel komplexer organisiert.
Kein Etikett – sondern neurobiologische Selbsterkenntnis
Es geht nicht darum, eine neue Diagnose zu finden, sondern um Verständnis. Wenn wir begreifen, wie unser System arbeitet, können wir es unterstützen, statt gegen es zu kämpfen.
Selbstakzeptanz
Erkenne, dass deine Energie kostbar ist – nicht mangelhaft.
Das „Mama‑Gefühl“ und der Leistungsdruck
Viele Erwachsene – vor allem Frauen und Mütter – kennen den inneren Satz nur zu gut: „Die anderen schaffen das doch auch.“ Doch wenn man beginnt zu verstehen, dass das eigene System Reize, Emotionen und Erwartungen anders verarbeitet, kann das alles verändern. Manche erkennen sich erst durch ihre Kinder wieder – besonders, wenn diese eine ADHS- oder ASS-Diagnose erhalten. Denn solche neurobiologischen Besonderheiten entstehen nicht plötzlich; sie sind häufig genetisch mitbedingt.
Eltern erkennen sich oft durch ihre Kinder
Kinder, die mehr Regulation, Struktur oder emotionale Begleitung brauchen, haben häufig Eltern, deren Nervensystem selbst ebenso viel feiner reagiert als es neurotypisch ist – und genau DAS kann zu besonders herausfordernden Dynamiken im Familienalltag führen.
Hier braucht es extra viel Mitgefühl. und zwar mit dir SELBST! Wenn du zu jenen gehörst, die gerade beginnen zu verstehen, dass deine Erschöpfung kein Zeichen von Schwäche ist – sondern ein biologisches Stopp-Signal, das nach Entlastung ruft, dann lade ich dich ein, besonders milde mit dir zu sein. Ganz egal, wo du gerade im Leben stehst – ob als Mama oder Papa, Tochter, Sohn, Partner:in, Freund:in, Kolleg:in oder Führungskraft, ob du selbstständig bist oder angestellt, arbeitssuchend oder in Ausbildung, ob du pflegst, erziehst, begleitest, organisierst, kreativ erschaffst oder einfach versuchst, jeden Tag irgendwie gut durchzukommen – du bist Mensch. Du bist genau so wie du bist besonders. Dein System darf müde sein.
Warum komplexe Gehirne evolutionsbiologisch Sinn machen
Wenn wir das einmal evolutionsbiologisch betrachten, macht es durchaus Sinn, dass es komplexe, reizoffene Gehirne gibt – sie hätten sich sonst längst herausselektiert. Menschen mit hoher Sensitivität und schneller Informationsverarbeitung waren für Gruppen überlebenswichtig: Sie bemerkten Gefahren früher, nahmen feine Veränderungen im sozialen Umfeld wahr und entwickelten kreative Lösungen für neue Probleme. Forschungen zur sogenannten Social-Brain-Hypothese (Dunbar, 1998) zeigen, dass sich das menschliche Gehirn in enger Wechselwirkung mit sozialen Anforderungen entwickelte. Ein „offenes“, vielspurig arbeitendes Nervensystem konnte helfen, subtile Signale in Mimik, Tonfall oder Gruppendynamiken zu erfassen – also das, was heute oft als „Feinfühligkeit“ oder „Hochsensibilität“ beschrieben wird. Auch aus neurobiologischer Sicht macht das Sinn: Das Gehirn nutzt etwa 20–25 % des gesamten Energieverbrauchs (Raichle & Gusnard, 2002). Ein komplexer, stark vernetzter Informationsfluss kostet also mehr Energie – bringt aber auch ein Mehr an Kreativität, Empathie und Adaptionsfähigkeit mit sich. Evolutionär gesehen ist neuronale Vielfalt ein Überlebensvorteil: Populationen, die sowohl effizient filternde als auch feinsinniger verarbeitende Gehirne enthalten, sind insgesamt anpassungsfähiger (balancing selection). Ganzheitlich betrachtet bedeutet das: Ein komplex arbeitendes Gehirn ist weder „besser“ noch „schlechter“ – es braucht einfach andere Bedingungen. Mehr Pausen. Mehr Stille. Mehr sichere Resonanz. Unter Dauerstress kippt seine Feinwahrnehmung leicht in Alarmbereitschaft, unter Sicherheit und Sinn aber wird sie zu Kreativität, Intuition und Weitblick.
Wege zur Leichtigkeit: Regulation & Struktur
Die Lösung liegt nicht in Perfektion, sondern in Entlastung. Es geht darum, äußere Strukturen zu schaffen, die das Nervensystem tragen, und klare Grenzen zu setzen, bevor Überforderung entsteht.
- Grenzen als Überlebenshilfe: Sie schützen deine sensorische Kapazität.
- Neurobiologische Regulation: Aktiviere gezielt deinen Vagusnerv, um das System herunterzufahren.
- Struktur statt Stress: Externe Routinen schaffen Vorhersehbarkeit und reduzieren die Planungsbelastung.
Grenzen setzen
Klare Grenzen schützen deine Energie und verhindern sensorische Überlastung.
Wissenschaftliche Vertiefung & Inspiration
Für alle, die tiefer eintauchen möchten, empfehle ich Literatur von führenden Experten der Polyvagal‑Theorie und Hochsensibilität.
- Stephen Porges – Die Polyvagal‑Theorie. Die Neurophysiologie des sozialen Engagements.
- Deb Dana – Die Polyvagal‑Theorie in der Praxis – konkrete Tools zur Selbstregulation.
- Elaine N. Aron – Sind Sie hochsensibel? – Pionierarbeit zur feinen Reizverarbeitung.
- Gabor Maté – Wenn der Körper „Nein“ sagt – Stress & Selbstentfremdung verstehen.
Dein Momentum beginnt mit Selbsterkenntnis
Selbsterkenntnis ist kein Ende, sondern der Anfang deines Weges. Erst wenn du dich verstehst, kannst du dich wirklich führen und deine komplexe Verdrahtung als Stärke annehmen.
Vielleicht ist das genau der Moment, in dem Leichtigkeit wieder möglich wird. Schön, dass du da bist!
